Reportage Am seidenen Faden

Gurgaon, 31.01.2015

Heute in Asien, morgen in Afrika: Selbst edle Marken werden da produziert, wo es am billigsten ist. Die Textilindustrie ist eine der Problembranchen der weltweiten Arbeitsteilung. Die lokalen Fabrikanten erscheinen oft als gierige Kapitalisten. Doch welchen Spielraum haben sie, um ihre Beschäftigten gut zu behandeln? Ortsbesuch bei Unternehmern im Norden Indiens für die Süddeutsche Zeitung.

Gurgaon – „Wissen Sie, ich bin ein kleiner Vogel im Dschungel. Ob ich lebe oder sterbe, interessiert niemanden“, sagt der indische Textilunternehmer Anil Tibrewal über die Gesetzmäßigkeiten seines Geschäftes. Auf dem Weltmarkt für Textilien stehen die wenigen Handels- und Modegiganten einer Heerschar von Produzenten gegenüber. Allein der amerikanische Handelskonzern Wal-Mart kauft Bekleidung bei 65 000 verschiedenen Zulieferern ein.



  Anil Tibrewal ist salopp gekleidet mit hellbrauner Baumwollhose, schwarzem Polohemd und Mokassins. Er hat sich bisher im Dschungel der Globalisierung behauptet. Der Inder hat 1988 sein Geschäft mit einem 2000-Dollar-Kredit gegründet. Der heute 50-Jährige baute später eine eigene Fabrik. Sie liegt in Gurgaon, einer Satellitenstadt dreißig Kilometer südlich der Hauptstadt Delhi.



  Hier im Eingangsflur hängen Titelseiten von Zeitungen mit Weltereignissen: Die Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten der USA, der Fall der Berliner Mauer. Auf vier Etagen arbeiten in dem Gebäude tausend der 60 Millionen Menschen, die irgendwo auf der Welt in der Textilwirtschaft tätig sind. Manchmal schaffen sie es auf die Titelseiten der Zeitungen, wegen trauriger Anlässe. So war es am 23. April 2013.



  An diesem Tag fiel in Bangladesch der neunstöckige Gebäudekomplex Rana Plaza in sich zusammen. Mehr als 1100 Menschen starben. Die Katastrophe offenbarte wieder einmal unwürdige und gefährliche Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie, eine der Problembranchen der weltweiten Arbeitsteilung. Am Pranger standen die korrupten und unverantwortlichen Unternehmer, die ihre Beschäftigten auch dann noch in die Fabrik getrieben hatten, als dort im Mauerwerk bereits Risse auftraten.



  Tatsächlich stehen die Unternehmer unter erheblichem Druck. Westliche Auftraggeber wechseln regelmäßig ihre Lieferanten, sie ziehen in andere Länder weiter oder gleich auf einen neuen Kontinent. Unterschiede von ein paar Cent bei den Produktionskosten reichen, um diese Bewegung auszulösen, mit der die Branche seit Jahrzehnten lebt.



  Die Textil-Karawane wanderte in den 1950er-Jahren von den nördlichen Industrieländern in südliche europäische Standorte wie Portugal. Dann kamen Mittel- und Südamerika, von dort ging es nach China und Indien. Zuletzt zogen die Textilunternehmen nach Vietnam, Bangladesch und Kambodscha. Selbst die billigen Werkbänke dort erscheinen manchen Fabrikanten heute bereits zu teuer. Derzeit schauen sich Firmen in afrikanischen Ländern wie Äthiopien und Kenia um.



  Kann ein einzelner Fabrikant angesichts dieses knallharten Wettbewerbs seine Beschäftigten gut behandeln?



  Wer sich als Journalist mit Fabrikanten darüber unterhalten will, steht in Indien oft vor geschlossenen Türen. Die Unternehmer sind misstrauisch. Der Türöffner ist Ganga Sharma. Der Ingenieur leitet ein zehnköpfiges Team des TÜV Rheinland, das indische Fabriken auf die Einhaltung von Sozialstandards prüft, Fabriken wie Rakheja Enterprise.



  „Keine Kinderarbeit“, steht auf einem roten Schild unübersehbar an der Einfahrt. In der Fabrik rattern Nähmaschinen. Ventilatoren laufen. Stoffballen türmen sich in den Regalen, an vielen Arbeitsplätzen hängen Poster mit Hindu-Gottheiten wie dem elefantenköpfigen Ganesha. Ein Arbeiter zeichnet mit Kreide auf einem dicken Stapel von Stofflagen die Silhouette eines Kleides auf. Ein anderer führt eine Bandsäge entlang der Kreidelinie, mit einem metallenen Handschuh als Schutz. Die Säge dröhnt.



  Die Leute arbeiten flink und konzentriert an langen Reihen von Tischen. Dazwischen steht der Fabrikbesitzer Rajesh Rakheja, ein hemdsärmliger Typ mit tiefen Augenringen und freundlichem Gesicht, der Bluejeans und weißes Hemd trägt. Der Unternehmer hat den rasanten Wandel der Textilindustrie in den vergangenen vierzig Jahren miterlebt. Der ältere Bruder gründete die Fabrik Anfang der Siebzigerjahre, als im Süden Goldgräberstimmung aufkam, weil der Norden in großem Stil die Fertigung von Textilien hierher verlagerte.



  Damals war es leicht, als Textilfabrikant zu starten. Niemand musste groß investieren, weil die Produktion nach einem Kontraktsystem organisiert war. Die Fabrikanten erhielten die Aufträge von Mittelsleuten westlicher Konzerne und beauftragten dann selbst Heimarbeiter mit der Fertigung. Der Fabrikant musste die Waren nur noch einsammeln, verpacken und verschicken. Die Hauptarbeit und der brutale Termindruck lasteten auf den Heimarbeitern.



  1986 starb der Bruder, Rakheja übernahm den Chefposten. Der Unternehmer erlebte, wie sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die wirtschaftliche Globalisierung beschleunigte. Viele Modekonzerne entledigten sich nun ganz der eigenen Produktion und kümmerten sich nur noch um Design und Marketing.



  Bald bekamen die Modeunternehmen aber zu spüren, wie teuer es werden kann, sich der Verantwortung für die Produktion zu entziehen. Wütende Jugendliche entsorgten 1997 ihre Turnschuhe vor dem Flagship-Store von Nike in Manhattan, womit sie gegen schlechte Arbeitsbedingungen bei Zulieferern in Indonesien protestierten. Die Bilder gingen um die Welt und schädigten das Image von Nike. Wie dem Sportkonzern erging es vielen.



  Der Versandhändler Otto lernte aus einem Skandal bei einem türkischen Zulieferer. „Das Festschreiben von Anforderungen bringt wenig, wenn diese nicht gleichzeitig auch kontrolliert werden und den Zuliefern geholfen wird, sie umzusetzen“, sagt Johannes Merck, Leiter Corporate Social Responsibility bei der Otto Group. Die Hamburger gehörten zu den Initiatoren der Business Social Compliance Initiative. Durch ihre Mitgliedschaft in der BSCI verpflichten sich vor allem Händler auf bestimmte Standards, Kontrollen und Qualifizierungsmaßnahmen bei Zulieferern. Expertenteams nehmen nun seit 2003 die Produktionsstätten einige Tage unter die Lupe und prüfen beispielsweise eine ordnungsgemäße Bezahlung oder die Zahlung von Überstunden. So eine Überprüfung kostet 1500 bis 3000 Euro.



  Etwa im Jahr 2005 bemerkte auch Rakheja in Indien die Veränderung bei seinen Auftraggebern. Vorher hätten die vor allem auf eine pünktliche Lieferung und den Preis geachtet. Jetzt schickten sie Kontrolleure in die Fabrik. Der Eigentümer wirkt wie ein altmodischer Patriarch. Beschäftigte bestätigen diesen Eindruck. Ihr Chef greife Einzelnen sogar bisweilen finanziell unter die Arme, wenn die Hochzeit einer Tochter anstehe oder der Bau eines Häuschens, erzählt der Arbeiter Roopchand, während er Waren verpackt. Der 43-Jährige verdient 8000 Rupien, 103 Euro, was einiges mehr ist als der Mindestlohn von 6500 Rupien. Über die Runden kommt seine fünfköpfige Familie trotzdem nur, weil die Frau arbeitet und auch sein Vater, der mit bei ihnen im Haus wohnt.



  Der Inder Israel bügelt Kleidungsstücke. Der 19-Jährige findet einiges gut in der Fabrik von Rakheja. Bei seinem vorigen Arbeitgeber habe er im Akkord gearbeitet, hier erhalte er einen fixen Lohn, womit er besser kalkulieren könne. Und dann gäbe es eine Kantine, was für ihn als Single praktisch sei, zumal die Firma das Essen bezuschusse. Wie das andere Dutzend Moslems erhalte er eine längere Pause, damit er am Freitagsgebet teilnehmen kann.



  Trotzdem will er so schnell wie möglich weg von hier und spart deswegen für ein Visum und ein Flugticket nach Kuwait. In dem Scheichtum leben bereits einige Verwandte von ihm und besticken Saris. „Dort kann ich viel mehr Geld verdienen“, sagt Israel. Von den häufig miserablen Arbeitsbedingungen für Gastarbeiter in den Golfstaaten hat er noch nie etwas gehört.



  Bei objektiver Betrachtung benötigen die Arbeiter in der südostasiatischen Textilindustrie ein viel höheres Einkommen, als sie es heute bekommen. Asia Floor Wage, ein Bündnis von asiatischen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), hält eine Vervierfachung des gesetzliche Mindestlohns in Indien für notwendig, damit er existenzsichernd ist.



  Unternehmer Rakheja gibt zu, dass die Löhne zu niedrig seien, und spricht über die stetige Inflation. Einigen zahle er mehr als den Mindestlohn, manche erhielten das Doppelte, schon um gute Leute zu halten. Mehr könne er jedoch nicht tun, beteuert er, wegen des knallharten Preiswettbewerbs. Ganz anders sähe die Rechnung für ihn aus, wenn die Regierung den Mindestlohn erhöhe oder Auftraggeber generell einen existenzsichernden Lohn von ihren Lieferanten einfordern würden. „Dann müssen alle Anbieter den gleichen Lohn kalkulieren und der Wettbewerb wird nicht verzerrt“, sagt er.



  Überhaupt sieht er die Politiker in der Pflicht; von seinen westlichen Auftraggebern wie Jac Jac aus Frankreich, Zero aus Deutschland oder Primark-Stores aus Großbritannien verspricht er sich wenig Unterstützung. Sie pochten auf die Einhaltung der lokalen Gesetze durch den Fabrikanten, aber sie zahlten doch nicht freiwillig mehr für bessere Arbeitsbedingungen.



  Tribewal hat persönliche Bande zu einigen Kunden in Europa geknüpft. Beim Gespräch zeigt er Facebook-Bilder von der Geburtstagsfeier einer befreundeten schwedischen Unternehmerin, die einen Tag zuvor stattgefunden hat. Solche Beziehungen könne man nur zu kleineren Anbietern aufbauen, erzählt er. Dank solcher Begegnungen könne man auch schon einmal großzügigere Lieferfristen erhalten und Druck aus der Produktion nehmen. Große internationale Konzerne tickten da anders.



  Etwa hundert Näher sitzen in der zweiten Etage hinter ihren Maschinen. Auf Zetteln stehen die Namen der jeweiligen Auftraggeber, ob Gudrun Sjöden oder Halens aus Schweden oder Otto aus Deutschland, es sind Firmen, die sich früh um eine verantwortlichere Produktion bemüht haben.



  Früher fertigte Tribewal auch für den Textildiscounter Primark, bei dem es T-Shirts schon für 2,50 Euro oder Jeans für neun Euro gibt. „Als das Unternehmen den Preisdruck weiter erhöhte, sagte ich irgendwann, ich bin nicht mehr der Richtige für euch“, erzählt Anil Tibrewal selbstbewusst.



  Möglich sei dies nur gewesen, weil er mit der Zeit immer mehr Kunden gewonnen habe, die nicht nur auf den Preis achteten. Dies sichere ihm einen gewissen Spielraum. Tibrewal arbeitet weiter an Verbesserungen der Qualität, um diesen Spielraum zu vergrößern. Für das Labor, in dem Mitarbeiter Stoffe auf ihre Haltbarkeit prüfen, will er bald Geräte anschaffen, mit denen Tests auf chemische Rückstände in den Textilien durchgeführt werden können.



  Die meisten Arbeiter in der Fabrik kommen nicht aus der Region Delhi, sondern sind auf der Suche nach Arbeit aus anderen Bundesstaaten hergezogen, oft von weit her. So war Alun Phasad, 43, Lehrer an einer Behindertenschule in der armen Provinz Bihar, bis die Regierung die Gelder strich und er eine neue Einkommensquelle für seine fünfköpfige Familie suchen musste. Jetzt etikettiert er die Stoffe. Mamter, 28, ist traditionell in einem Sari gekleidet und trägt einen kleinen goldenen Nasenring. Sie stammt aus dem Bundesstaat Madhya Pradesh, wo ihr Ehemann immer noch lebt, mehr als tausend Kilometer von ihr entfernt. In der Fabrik kontrolliert Mamter gemeinsam mit einem Dutzend anderer Frauen die Qualität der Waren und zupft Fadenreste von der Kleidung. Sie träumt von einem eigenen kleinen Laden in der Heimat. Allerdings wird dies ein langer Weg, weil das Sparen schwierig ist bei einem so geringen Lohn.



  In einem Glaskasten hängen bei Ganga Enterprise die Vorgaben diverser Organisationen wie BSCI, der Ethical Trading Initiative oder der Grupo de Cortefiel, dem zweitgrößten spanischen Bekleidungshersteller. Der Arbeiter, der wenige Meter weiter stolz den Metalldetektor zum Aufspüren von abgebrochenen Nadeln vorführt, weiß allerdings nicht so recht etwas mit diesen Standards anzufangen. Und vielerorts wird sogar regelrecht Schindluder getrieben, wovon Mokshagundam Bhaskar berichtet, der beim TÜV Rheinland in Indien für die Finanzen zuständig ist. Er erzählt von dem Unternehmer, der bei ihm angerufen habe, um ein Zertifikat zu kaufen, ohne vorherige Kontrollen. Dafür bot der Unternehmer einen Aufpreis von 20 Prozent auf die Kosten einer Zertifizierung. Bhaskar lehnte ab. Aber alle Firmen sagen bei solchen Anfragen sicher nicht Nein.



  Und so klaffen Anspruch und Wirklichkeit in der Modewelt weiter auseinander. „Bei vielen Unternehmen sind die Nachhaltigkeitsvorschriften das Papier nicht wert, auf dem sie stehen“, erzählt ein Branchenkenner. Manche reden sogar von „organisierter Kriminalität". Und damit wird der Wettbewerb weiter verzerrt.



  Der TÜV Rheinland ist selbst mit seinen Audits ins Gerede gekommen, weil er vor dem Unglück in Rana Plaza in dem Gebäude war. „Wir haben unsere Lektion gelernt“, sagt Ganga Sharma. Aber die Wirkungsweise des jetzigen Systems sei begrenzt: Die Kontrolleure könnten die Zustände nicht wie die Polizei untersuchen, und es sei Sache der Firmen, ob sie die Verbesserungsvorschläge befolgten. Sozialaudits gibt es seit zwei Jahrzehnten. Offensichtlich geht es einem Großteil der Beschäftigten heute aber nicht besser als ihren Kollegen damals.



  Was würden die Arbeiter anders machen, wenn sie selbst das Kommando in ihrer Fabrik übernehmen könnten?



  Sie haben so einige Ideen: „Eine Gewinnbeteiligung einführen“, sagt Roopchand. „Für eine kontinuierliche Auslastung sorgen“, wünscht sich Neelam. „Härter mit den westlichen Auftraggebern verhandeln“, sagt Israel.



  Neuerdings schauten einige westliche Modekonzerne stärker als früher darauf, welche Fabrikanten sie beauftragen. Firmen hätten Aufträge von Bangladesch nach Indien verlagert, sagt Rajesh Rakheja. Davon hätten er selbst und seine 800 Beschäftigten in den drei Fabriken profitiert. Und Anil Tibrewal überlegt gerade, eine zweite Fabrik zu bauen, wegen der vielen Anfragen in jüngster Zeit.



  Vielleicht setzen sich am Ende doch die Textilfabrikanten durch, die ihre finanziellen Spielräume auch für ihre Beschäftigten nutzen. Diese Spielräume werden sie selbst aber kaum vergrößern können, da geben sich beide keinerlei Illusionen hin – das könnten nur Indiens Politiker.