Kommentar Und der Wähler kann doch wählen

Berlin, 15.07.2013

Was für eine paradoxe Situation. Noch nie hatte eine deutsche Regierung in der Nachkriegszeit so viel Einfluss, schon alleine wegen ihrer Schlüsselrolle bei der Krisenbewältigung und Gestaltung des europäischen Projekts. Gleichzeitig überlegen Bürger, bei der Bundestagswahl in 70 Tagen daheim zu bleiben. Es sei doch egal, wen sie wählen, lautet die These von der Austauschbarkeit der Parteien, die man immer häufiger hört. WDR

Was für eine paradoxe Situation. Noch nie hatte eine deutsche Regierung in der Nachkriegszeit so viel Einfluss, schon alleine wegen ihrer Schlüsselrolle bei der Krisenbewältigung und Gestaltung des europäischen Projekts. Gleichzeitig überlegen Bürger, bei der Bundestagswahl in 70 Tagen daheim zu bleiben. Es sei doch egal, wen sie wählen, lautet die These von der Austauschbarkeit der Parteien, die man immer häufiger hört. 



Fraglos haben sich die im Bundestag vertretenen Parteien programmatisch angenähert. In der CDU hat eine Sozialdemokratisierung stattgefunden. Schwarz-Gelb hat den endgültigen Atomausstieg verabschiedet, für den jahrzehntelang die Grünen kämpften.  SPD und Grüne wiederum tragen die Eurokrisenpolitik der Regierungskoalition mit. Trotzdem gibt es substantielle Unterschiede. Wir haben sehr wohl eine Wahl. Dafür kann man viele Themen aus den Parteiprogrammen herausgreifen, beispielsweise den Mindestlohn.



Viele Erwerbstätige kommen in Deutschland nicht mehr über die Runden, obwohl sie Vollzeit arbeiten. Viele Bürger finden das ungerecht und wünschen sich eine Änderung, zumal in den meisten europäischen Ländern ein Mindestlohn längst eine Selbstverständlichkeit ist. Nach jahrelanger Diskussion wollen nun alle im Bundestag vertretenen Parteien etwas gegen den Missstand unternehmen, selbst die Unionsparteien, die noch im Koalitionsvertrag - gemeinsam mit der FDP - einen einheitlichen Mindestlohn strikt abgelehnt hatten. Mittlerweile plädiert die Kanzlerinnenpartei  zumindest für allgemeinverbindliche Lohnuntergrenzen, was aber etwas anderes ist als ein allgemeiner Mindestlohn. Auch künftig können die Löhne unterhalb dieser Grenze liegen, wenn die Tarifpartner sich darauf verständigen.  Dumpinglöhnen wären weiterhin möglich, vor allem in Bereichen mit schwachen Arbeitnehmervertretungen. 



 SPD und Grüne wollen dagegen im Falle ihres Wahlsieges schon ab Februar 2014 einen allgemeinen gesetzlichen  flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde einführen.  Die Piraten plädieren für 9,02 Euro, die Linke fordert sogar einen gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro, jährlich entsprechend der Steigerung der Lebenshaltungskosten anzupassen.  Für die unterschiedlichen Positionen gibt es Gründe, die mag man falsch oder richtig finden. Jedoch zu behaupten, alle Parteien wollten das gleiche,  ist Humbug. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob der Gesetzgeber einen Mindestlohn festlegt, ob dafür Tarifvertragsparteien zuständig sind, oder, ob neben den Tarifvertragsparteien zusätzlich Wissenschaftler Mitspracherecht haben. Alle drei Varianten gibt es. Zudem liegen die Vorstellungen über die Höhe einer angemessenen Lohnuntergrenze auseinander, mit Folgen für die Betroffenen.



Wählen können wir auch sonst, ob bei Steuern oder der Gesundheitsversorgung. Es macht einen ziemlich entscheidenden Unterschied, ob das bisherige zweigeteilte System mit gesetzlichen und privaten Kassen beibehalten oder eine Bürgerversicherung eingeführt wird. 



Übrigens - von einer Stimmung der Alternativlosigkeit profitieren am Wahltag erfahrungsgemäß die Unionsparteien, weil konservative Wähler eher aus einem Pflichtgefühl zur Wahl gehen. Dagegen bleiben Wähler aus dem linken gesellschaftlichen Spektrum eher Zuhause, wenn sie keine echten Alternative sehen.  Es wirkt sich also bereits aus, ob Sie beim Gespräch über die Wahl die These von der Austauschbarkeit der Parteien propagieren oder nicht.

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