Buchkritik Heiner Flassbeck: Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts

Berlin, 20.12.2010

Seit gut zwei Jahren quellen die Regale der Buchläden mit Literatur zur Finanzkrise über. Viele Ökonomen haben das Geschehen analysiert, darunter solche, die frühzeitig auf Fehlentwicklungen hingewiesen, und andere, die durch den Crash gelernt haben. Heiner Flassbeck gehört zur ersten Gruppe. Deutschlandfunk

Der Chefökonom der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung gilt hierzulande als einer der wichtigsten Vertreter einer makroökonomisch ausgerichteten Ökonomie. Vertreter dieser Schule fanden vor dem Ausbruch der Finanzkrise selten Gehör.



Zentral für Flassbecks Analyse ist die Trennung zwischen betriebswirtschaftlichem und volkswirtschaftlichem Denken. Was für einen Unternehmer betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, kann nämlich gesamtwirtschaftlich schädlich sein. Flassbeck verdeutlicht dies anschaulich am Wettbewerbsprinzip. So sinnvoll der Wettbewerb von Unternehmen um die besten Produkte sei, so unsinnig sei er zwischen Staaten. Zum Konkurrenzkampf in der Wirtschaft gehört es, dass die besseren Unternehmen höhere Gewinne machen und die schwächeren schließlich aus dem Markt ausscheiden. Länder können jedoch nicht ausscheiden. Im Handel zwischen Volkswirtschaften „seien Überschüsse des einen Staates zwingend die Defizite eines anderen Staates“, schreibt Flassbeck.



Wer seiner stichhaltigen Argumentation zustimmt, wird das Erfolgsmodell des deutschen Exportweltmeisters am Ende der Lektüre kritischer sehen. Wer Überschüsse macht, ist nicht mehr als Lehrmeister gefragt, der andere Nationen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit auffordert, sondern muss sich selbst Kritik gefallen lassen. Und genau in dieser Rolle des Bösewichts sieht sich die Bundesregierung ja tatsächlich zunehmend auf internationaler Ebene, zuletzt beim Gipfel der 20 größten Wirtschaftsnationen in Seoul.



Anstatt auf den Wettbewerb der Länder setzt Flassbeck auf einen „harmonischen Umgang der Nationen“. Dazu gehört für ihn ein Verzicht auf systematische Lohnzurückhaltung. Tatsächlich sind die Löhne in der größten europäischen Volkswirtschaft im Vergleich zu den Nachbarländern deutlich weniger gestiegen – sie sind sogar während der Boomjahre von 2005 bis 2008 gesunken. Viele Ökonomen sehen darin eine wesentliche Voraussetzung für das Comeback der deutschen Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt. Flassbeck sieht dagegen darin eine Ursache für die andauernde Krise der Europäischen Währungsunion. Durch Lohndumping habe man die „zentrale Spielregel für eine Währungsunion“ verletzt, sagt er.



Löhne spielen eine wichtige Rolle im Denkgebäude von Flassbeck. Ganz Keynsianer, weist er auf die entscheidende Funktion der Löhne als Kaufkraft hin und argumentiert, dass Unternehmen ihre Produktion genau dann ausweiten, wenn sie einen Absatzmarkt für ihre Produkte vorfinden. Die Löhne seien „in Wirklichkeit der wichtigste Stabilisator einer wachsenden Wirtschaft, schreibt er und verweist auf das deutsche „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit, das de facto ein „Lohnwunder“ gewesen sei.



Lesenswert ist das verständlich geschriebene Buch vor allem, weil der Autor viele Widersprüche aufdeckt und konkrete Gegenvorschläge begründet. Etwas ermüdend ist, dass er sich gerade in der Frage des Lohns wiederholt. Da wäre Platz gewesen, etwa für eine Diskussion über die hohen Staatsschulden der westlichen Nationen oder die Lösung der schwindenden Ressourcen. Für den Fall dass die Politik nicht bald umlenkt, sieht Flassbeck schwarz: Dann fahre das System „gegen die Wand“, lautet seine Prognose abschließend.



Heiner Flassbeck. Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2010. 256 Seiten. 22,95 Euro.