Buchbesprechung von Nancy Fraser Der Allesfresser
Berlin, 20.03.2023
Die US-Philosophin und Feministin Nancy Fraser hat der gesellschaftlichen Debatte aus einer linken Perspektive in den vergangenen 30 Jahren einige gegeben. In ihrem neuen Buch beschäftigt sie sich mit der Frage, wie der Kapitalismus seine Grundlagen zerstört und skizziert Elemente einer künftigen Gesellschaft. Caspar Dohmen stellt ihr Buch vor: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Hören Sie meine Besprechnung bei Andruck.
Das Cover drückt bildhaft den Kerngedanken des Buches der US-Philosophin Nancy Fraser aus: Eine Schlange verschlingt ihr eigenes Hinterteil. Die Schlange steht hier symbolisch für den Kapitalismus, sie schreibt: „Was für einen ausstehenden Beobachter wie eine Krise aussieht, wird erst dann historisch produktiv, wenn es von den gesellschaftlichen Akteuren als Krise wahrgenommen wird – erst dann also, wenn sie zum Beispiel intuitiv erkennen, dass die drängenden Probleme, die sie erleben, nicht trotz, sondern gerade wegen der etablierten Ordnung entstehen und innerhalb dieser nicht gelöst werden können.“ Notwendig sei ein Systemsystemwechsel hin zu einem Sozialismus:„Wenn der Sozialismus alle Fehler des Kapitalismus beheben will, steht er vor einer ziemlich großen Aufgabe. (…) So gesehen, ist die Aufgabe, den Sozialismus für das 21. Jahrhundert neu zu denken, durchaus beachtlich. Wenn diese Aufgabe bewältigt werden kann (und das ist ein großes Wenn), dann nur durch die gemeinsamen Anstrengungen vieler Menschen, darunter Aktivisten und Theoretikerinnen.“ Aber zunächst absolviert sie über mehrere Kapitel einen argumentativen Parforceritt, durch die Geschichte des Kapitalismus, den sie in vier Perioden teilt: den Merkantilismus, den Lassaiz-Faire-Kapitalismus, einen Kapitalismus mit einem starken Staat und den heutigen Finanzkapitalismus. Dabei knüpft sie an Karl Marx an. Er habe in seiner Theorie „hinter die Sphäre des Tauschs, in die »verborgene Stätte« der Produktion“ geblickt, „um die Geheimnisse des Kapitalismus zu entdecken. Sie erhebt für sich den Anspruch, eine Ebene tiefer zu blicken, also dorthin, wo die Bedingungen der Möglichkeit der Produktion sichtbar werden. „Dass Marx’ Darstellung der kapitalistischen Produktion nur Sinn ergibt, wenn wir die Hintergrundbedingungen ihrer Möglichkeit zu ergänzen beginnen.“ Vier solcher nicht ökonomischer Hintergrundbedingungen analysiert sie: Die soziale Reproduktion, ohne welche Lohnarbeit nicht existieren könne. Die Annexion der Natur durch das Kapital, sowohl als „Quelle von »Inputs« für die Produktion als auch als »Senke« zur Aufnahme von deren Abfällen“. Die Abhängigkeit des Kapitalismus von der staatlichen Gewalt bei der Festlegung und Durchsetzung konstitutiver Normen. Den ständigen Zufluss von Reichtum, „der von rassifizierten Bevölkerungen enteignet wurde“. Alle diese existenziellen Hintergrundbedingungen zerstöre der heutige Finanzkapitalismus. Die Theoretikerin bezeichnet diesen Prozess als Kannibalisierung, für sie die passende Metapher, „diese Gesellschaft als eine institutionalisierte Fressorgie zu betrachten, deren Hauptgericht wir sind (…) „Die wahre Macht ist natürlich das Kapital: die Megakonzerne, Großinvestoren, Banken und Finanzinstitute, deren unstillbarer Durst nach Profit Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt zu einem verkümmerten und verkürzten Leben verdammt.“ Selbst die progressiven Vertreterinnen und Vertreter der Mainstream-Oppostion tragen ihrer Ansicht nach zum Erhalt des Status Quo bei. Die vorherrschenden Strömungen des »Widerstands« seien sogar mit dem bestehenden System „verstrickt“. Das gelte für die liberal-meritokratischen Flügel so populärer sozialer Bewegungen wie der feministischen, der antirassistischen, der ökologischen und jener für LGBTQ-Rechte. Von einer „unheiligen Allianz“ spricht Nancy Fraser. „Die Progressiven dienten somit ebenfalls als Frontleute – wenngleich auf andere Weise -, indem sie der räuberischen politischen Ökonomie des Neoliberalismus einen Anstrich von emanzipatorischen Charisma verpassen.“ Aber wie geht es weiter? Derzeit gebe es weder einen „umfassend legitimierten hegemonialen Machtblock“ noch „eindeutige und glaubwürdige gegenhegemoniale Herausforderer“. Das wahrscheinlichste kurzfristige Szenario sei eine Abfolge von Pendelbewegungen, zwischen dem offen neoliberalen Pol und dem erklärtermaßen anti-neoliberalen Pol, so wie zuletzt in den USA. Solche politischen Schwankungen kennzeichneten die Gegenwart als eine Zwischenzeit. Historisch seien solche Krisen selten. Zum Schluss denkt Nancy Fraser dann über einen neuen Sozialismus nach, spricht von Gedankenfutter. Zwar skizziert sie nur Elemente, trotzdem ist sie mutig. Denn die meisten Kritikerinnen und Kritiker des Kapitalismus bleiben in der Kritik stecken. Wichtig sei es, die von der kapitalistischen Gesellschaft geerbten institutionellen Grenzen neu zu ziehen, sagt sie. „Damit dringende Angelegenheiten, die der Kapitalismus ins Ökonomische verwiesen hat, politisch oder sozial werden.“ So müsse der Sozialismus „die Nachhaltigkeit all jener Produktionsbedingungen sicherstellen, die der Kapitalismus so rücksichtslos kaputt gemacht hat“. Eine gigantische Reparaturaufgabe. Und über die Höhe und die Verteilung des gesellschaftlichen Überschuss würde demokratisch entschieden. „Es bedeutet vielmehr, dass wir die Frage des Wachstums (wollen bzw. brauchen wir es überhaupt und, wenn ja, wie viel welcher Art, wie und wo?) zu einer politischen Frage machen müssen, die es auf der Grundlage multidimensionaler, von der Klimawissenschaft informierter Überlegungen zu entscheiden gilt.“ Beschränken würde sie den Geltungsbereich des Marktes. Außen vor bliebe er oben, wo auf Gesellschaftsebene über die Verteilung des sozialen Überschusses entschieden würde. Außen vor bliebe er auch unten, denn Grundbedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder wie Gesundheit, Bildung und Ernährung erhielten den Charakter öffentlicher Güter, die allen zustehen. Platz für den Markt gäbe es nur noch dazwischen, wo privatwirtschaftliche Marktakteure neben Genossenschaften, Commons, selbstorganisierten Assoziationen und selbstverwalteten Projekten agieren würden. Nancy Fraser dürfte alle inspirieren, die nach einem Ausweg aus den vielfältigen Krisen unserer Zeit suchen. Und sie schreibt so, dass man ihren komplexen Gedankengängen stets gut folgen kann.